"Ein deutliches JA zu Europa!" - Interview mit Dr. Hans-Peter Rathjens

Veröffentlicht am 22.05.2019 in Ortsverein

Dr. Hans-Peter Rathjens

Am 26.05., dem Tag der Europawahl geht es um nichts anderes als die Frage, ob Europa und die Länder der EU das Erbe der Aufklärung und weltoffene Demokratien bewahren oder lieber nationalistischen Tönen folgen möchten, die gleichzeitig die Weltoffenheit der EU abschaffen wollen.

 

Im Rahmen des Europawahlkampfs hat die Rosbacher SPD daher ein Interview mit Dr. Hans-Peter Rathjens zu Europathemen geführt. Dr. Rathjens ist promovierter Volkswirt und als Senior Investments Strategist tätig. Er ist Fraktionsvorsitzender der SPD im Rosbacher Stadtparlament und Vorsitzender des Haupt- und Finanzausschusses der Stadt Rosbach. Den Wortlaut des Interviews finden Sie im Anschluss.

 

Hans-Peter, was fällt Dir spontan ein, wenn Du an Europa denkst?

 

Das ist ganz einfach und aus tiefem Herzen heraus: Frieden! Ich bin vor wenigen Tagen 63 Jahre alt geworden. Mein Vater war im II. Weltkrieg Soldat. Ich erinnere mich noch genau daran, als der Prager Frühling durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes gewaltsam niedergeschlagen wurde und er zu uns sagte: „Bitte nur keinen Krieg wieder!“

Ich war damals 12 Jahre und habe den Satz nicht in all seiner emotionalen Tragweite verstanden. Ich bin dankbar dafür, dass wir – bei aller Brüchigkeit und dem Aufflammen von regionalen Konflikten – auf über 70 Jahre Frieden zurückschauen können. Ich hoffe, dass unsere Kinder dies später auch sagen können.

 

Du bist seit über 20 Jahren Mitglied in unserem Stadtparlament. Was bedeutet Europa für Rosbach?

 

Nun, gehen wir einmal gedanklich durch unsere Stadt und klingeln an verschiedenen Türen: Wir werden erstaunt sein, wie viele Menschen aus anderen europäischen Nationen bei uns wohnen – und auch hier weiter wohnen bleiben werden. Das bringt schlicht und einfach die Nähe zu Frankfurt mit sich, wo viele Menschen bei internationalen Firmen arbeiten und damit auch zu unserem Wohlstand beitragen.Ich weiß, dass sich viele Menschen ein beschauliches Rosbach wünschen.

Die Kunst der Kommunalpolitik wird sein, hier einen Kompromiss zu finden, so dass Wohnraum auch bezahlbar bleibt. Noch zwei wichtige Punkte: Unsere Firmen, die sich in Rosbach angesiedelt haben, stehen in internationaler Konkurrenz und müssen sich bewähren. Na ja, und als Kommune müssen wir bei öffentlichen Ausschreibungen das EU-Recht beachten, so dass alle die gleichen Chancen haben.

 

Kein Tag, an dem nicht das Thema Brexit in der Öffentlichkeit diskutiert wird. Wie siehst Du den Wunsch der Briten, die EU zu verlassen?

 

Ich würde mich wirklich riesig freuen, wenn UK ein Teil der EU bliebe. Es ärgert mich maßlos, wie verantwortungslos die Politik hier gehandelt hat. Es wurde nicht sachlich aufgeklärt und die Pro- und Kontra-Argumente sorgfältig abgewogen, sondern es wurde mit den Ängsten der Menschen gespielt.

Natürlich kann ein Land für sich entscheiden, aus der EU auszuscheiden. Ein solcher Schritt mit sehr langfristigen Konsequenzen sollte jedoch sorgfältig vorbereitet und mit einer qualifizierten Mehrheit von deutlich über 50% getroffen werden. Und nach meinem Eindruck dämmert es allmählich der britischen Bevölkerung und auch den verantwortlichen Politikern, auf welches Abenteuer sie sich dort eingelassen haben. Dies gilt insbesondere aus wirtschaftlicher Sicht. Ich bezweifle, dass England bessere Handelsverträge z.B. mit Donald Trump aushandeln kann als die EU.

 

Es geht ein Gespenst um in Europa, das Gespenst des Populismus. Werden wir in zehn Jahren ein ganz anderes Europa haben?

 

Wir sehen in einigen Ländern, dass die Demokratie immer mehr Schaden nimmt und die Autokratie Oberhand gewinnt. Dies ist ein schleichender Prozess. Es fängt damit an, demokratische Spielregeln abzulehnen, die in der Verfassung garantiert sind. Danach kommt die Leugnung der Legitimität des politischen Gegners, geht weiter mit der Tolerierung von Gewalt und endet in der Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten und Medien. Auf einmal sind wir in einem autokratischen System und reiben uns die Augen. Gibt es ein Patentrezept, um dieses zu verhindern? Patentrezepte gibt es nicht, sonst hätten wir sie ja schon längst umgesetzt. Natürlich muss die EU-Kommission als Hüterin der Verträge klar Verstöße benennen und zur Not auch Verfahren gegen einzelne Länder einleiten.

Die Fraktionen im EU-Parlament können auch einen Teil dazu beitragen und festlegen, wer Mitglied in einer Fraktion ist und wer nicht. Als Deutsche werden wir uns aufgrund unserer eigenen Geschichte immer etwas schwer tun, den moralischen Zeigefinger zu erheben, aber hinter verschlossenen Türen sollten wir unsere Position klar und deutlich machen.

 

Das Thema Flüchtlinge ist bis jetzt noch nicht angesprochen worden. Kann die Flüchtlingskrise das Ende der EU bedeuten?

 

Ja, das Risiko ist sicherlich langfristig gegeben, wobei sich die Situation zuletzt etwas beruhigt hat. Und auch hier gibt es kein Patentrezept. Es sagt sich so leicht, dass die Fluchtursachen bekämpft werden müssen. Wenn es dann konkret wird, kommen wir doch alle ganz schnell an unsere Grenzen und der argumentative Holzhammer wird über den Stammtischen geschwungen.

In mehreren Punkten bin ich mir sicher: Erstens: Kein EU Land kann das Problem alleine bewältigen – auch dies ein Grund, warum wir Europa benötigen. Und Zweitens: Wir müssen unsere Wirtschaftspolitik so ändern, dass Güter aus den Fluchtländern zu uns kommen und nicht die Flüchtlinge. Sie müssen eine Wirtschaftsperspektive haben – wiederum leicht am Schreibtisch gesagt, aber nur schwer umzusetzen. Wir haben aus meiner Sicht, aber gar keine andere Chance.

Ich hoffe , dass sich die EU in diesem Punkt auf einen gemeinsame Strategie einigt, zumal alle davon profitieren. Und zuletzt: Auch wir müssen eine Diskussion darüber führen, wie konkret Integration umgesetzt werden soll. Vorurteilsfrei, ohne gleich in eine Ecke gestellt zu werden. Wenn wir diese Diskussion verweigern oder nur hinter vorgehaltener Hand führen , werden die Rechtspopulisten weiteren Zulauf erhalten.

 

Kann die Eurozone überleben?

 

Ja, sie kann. Ein Punkt ist hierbei aber zentral: Allen muss bewusst sein, dass sich mit der Einführung des Euros die Spielregeln geändert haben. Abwertungen zur Erlangung und zum Ausgleich von Wettbewerbsvorteilen sind ausgeschlossen. Das ist natürlich eine Einschränkung von wirtschaftspolitischer Freiheit und beschränkt Unternehmen, Gewerkschaften und die Fiskalpolitik. Aber man kann nicht alles haben. Mein Eindruck gerade mit jüngeren Menschen ist, dass der Euro inzwischen nicht nur ein Teil ihres wirtschaftlichen Alltagslebens geworden ist, sondern auch identitätsstiftende Wirkung hat. Damit ist der Euro auch ein Stück Friedenspolitik.

 

Du hast gerade die Jugendlichen angesprochen. Müssten sie nicht in Anbetracht der hohen Jugendarbeitslosigkeit enttäuscht vom Euro sein?

 

Die Enttäuschung kann ich ja nachvollziehen. Wir Menschen suchen ja gerne nach Sündenböcken und wenn es dann noch der Euro ist, umso besser. Aber auch hier kann ich aus der Haut fahren: Wir als Gesellschaft - und zwar jeder einzelne sowie Politik, Unternehmen und Gewerkschaften – sind für die Ausbildung unserer Jugendlichen verantwortlich. Aber doch nicht der Euro. Der Euro deckt natürlich die Schwächen brutal auf.

Für vorbildlich – ohne die moralische Keule schwingen zu wollen - halte ich das duale Ausbildungssystem in Deutschland. Ein solches System in anderen Ländern auf- und auszubauen, wäre für mich ein wichtiger Schritt nach vorne. Dies ist aber eine Generationenaufgabe für Europa und nicht mit einem Fingerschnipp zu erreichen. Hier und da mit einzelnen Förderprogrammen kurzfristig zu helfen, ist zwar in Ordnung, löst aber nicht das grundsätzliche Problem.

Apropos Jugendliche. Besonders erfreut bin ich über die Jugendproteste im „Friday for Future“. Es zeigt sich, dass Jugendliche in Deutschland, Europa und dem Rest der Welt mehr Interesse an Politik und der gesellschaftlichen Entwicklung haben als man gemeinhin annehmen könnte.

 

Das alles kostet ja viel Geld. Gibt die EU nicht aktuell schon zu viel Geld aus und muss reformiert werden?

 

Nun lassen wir hier mal die Kirche im Dorf. Die Einnahmen sind auf rund 1,2% des sogenannten Bruttonationaleinkommens BNE der Mitgliedsländer begrenzt. Das ist nun wirklich überschaubar und kein Grund zur Panik.

Wir sollten uns lieber Gedanken darüber machen, wie wir die Mittel sinnvoll einsetzen. Nach wie vor ist die Landwirtschaft der größte Ausgabenposten. Ich bin selbst auf einem Bauernhof aufgewachsen und weiß, wie schwer die Arbeit ist. Aber die Gelder kommen nicht bei den kleinen Höfen an, sondern bei den großen mit Industriecharakter. Ein Schwenk mehr in Richtung Ökologie und Nachhaltigkeit halte ich für angebracht. Und zudem sollte man nicht vergessen: Gelder, die die wirtschaftlichen Perspektiven afrikanischer Länder verbessert, werden wir als Friedensdividende zurückerhalten.

In Bezug auf die notwenigen Reformen möchte ich festhalten, dass wir im EURO-Raum eine einheitliche Steuergesetzgebung und Mindestlöhne benötigen, die sich am Gehaltsniveau des Landes des Auftraggebers orientieren. Nur so lässt sich die Akzeptanz des Euro erhalten.

Ansonsten kommt von meiner Seite ein deutliches JA zu Europa. Nur so können wir in der globalisierten Welt bestehen.

Hans-Peter, wir danken Dir für das Gespräch!

Das Interview führten Herbert See und Christian Stengel